Das Verwaltungsgericht Osnabrück beurteilt Paragraph 20a des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), so wie er Ende 2022 galt, als nicht verfassungskonform. Die Norm verletzte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Berufsfreiheit, teilte die Gerichtspressestelle am Dienstag (3. September) im Anschluss an eine Verhandlung zum Fall einer Pflegehelferin mit. Die Frau hatte eine Normenkontrollklage eingereicht, nachdem der Landkreis Osnabrück im Jahr 2022 ein „Betretungs- und Tätigkeitsverbot“ gegen sie verhängt hatte, weil sie keinen „Impf- oder Genesenennachweis“ vorlegte. Besondere Aufmerksamkeit hatte der Prozess bereits zuvor erzeugt, da der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lars Schaade als Zeuge geladen war.
Obwohl das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der, inzwischen wieder abgeschafften, Norm im April 2022 schon einmal verhandelt und bestätigt hatte, lege das Osnabrücker Gericht den Paragraphen nun erneut zur Beurteilung vor – denn er sei „im Laufe des Jahres 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“, so das Gericht. Grund für die neue Bewertung seien die Krisenstabsprotokolle des RKI, die durch Multipolar freigeklagt und veröffentlicht worden waren.
Der Schutz vulnerabler Personen vor einer Ansteckung durch ungeimpftes Personal sei ein tragendes Motiv für die Einführung der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Impfpflicht gewesen, erklärte das Gericht. Diese „auf den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts beruhende Einschätzung“ werde aber „durch die nun veröffentlichten Protokolle des Instituts erschüttert.“ Nach Einsichtnahme in die Protokolle und Zeugenvernehmung von RKI-Präsident Schaade durch das Gericht sei „die Unabhängigkeit der behördlichen Entscheidungsfindung in Frage zu stellen“, heißt es weiter.
Vom Gericht befragt zur Wissenschaftssfreiheit und zu Vorgaben des Bundesgesundheitsministeriums, auch was die Risikobewertung angehe, hatte RKI-Präsident Lars Schaade während der Verhandlung erklärt, man sei „hier wohl an einer Schnittstelle“ zwischen „Management und Wissenschaft“. Mehrfach führte Schaade aus, bestimmte Entscheidungen seien als Teil eines politischen „Managements“ der Krise zu begreifen und nicht streng wissenschaftlich erklärbar.
„Selbstverständlich“ nehme das RKI vom Ministerium „Weisungen entgegen“. Die Frage der Risikobewertung habe „normativen Charakter“, sei also regelsetzend, und falle deshalb in den Bereich politischen Managements. Der Richter entgegnete, dass das Bundesverfassungsgericht sich aber gerade auf eine Unabhängigkeit des RKI berufen hatte und Grundrechtseingriffe nur dann zulässig seien, wenn sie auf wissenschaftlicher Evidenz basierten.
Thomas Drewes, Leiter der Rechtsabteilung des Landkreises Osnabrück, der als Beklagter auftrat, erklärte anschließend, die Beweisaufnahme habe ihn „nachdenklich gemacht“: „Wir als nachgeordnete, regionale Behörde sind davon ausgegangen, dass RKI, Landes- und Bundesämter stets nach aktuellem Stand der Wissenschaft handeln. Ich würde den von uns erlassenen Bescheid heute mit meinem Herzen aufheben.“
Der Vorsitzende Richter Gert-Arnim Neuhäuser, zugleich Präsident des Osnabrücker Verwaltungsgerichts, erklärte zum Ende der Verhandlung, das RKI habe möglicherweise eine Vorstellung von Wissenschaftlichkeit und von politischer Einflussnahme, die sich nicht mit der eines Verwaltungsjuristen decke. Und weiter: „Die Kammer hat nicht bloß Zweifel, sie ist überzeugt, dass bestimmte Grundrechtseingriffe in der Pandemie verfassungswidrig waren.“ Daher werde das Verfahren der Pflegehelferin nun ausgesetzt und zur Überprüfung zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe verwiesen. Dort müsse entschieden werden, ob der Paragraf 20a des Infektionsschutzgesetzes in seiner damaligen Fassung verfassungswidrig war. Anschließend kann in Osnabrück weiterverhandelt werden.
Bereits im Juli hatte Multipolar-Mitherausgeber Paul Schreyer in der Neuen Osnarbücker Zeitung (NOZ) die Widersprüche, die aus den RKI-Protokollen hervorgehen, in einem Gastbeitrag ausführlich dargelegt und auch die Frage der strittigen Risikobewertung erläutert. Der Artikel schloss: „Das heißt auch, dass die Gerichte, die sich bei ihren Urteilen zur Rechtmäßigkeit der Corona-Maßnahmen auf eine wissenschaftliche Basis der Risikoeinschätzung verließen, Fehler begangen haben, deren Anerkenntnis und Aufarbeitung weiterhin ausstehen.“
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